(aus: In/Press #4, März 2019)
Über eine (fast) vergessene rechtsterroristische Vereinigung, die unrühmliche Rolle der deutschen Sicherheitsbehörden und Parallelen in die Gegenwart.
Als die extrem rechte Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) sich am 04. November 2011 selbst enttarnte, wurden nach und nach auch Verstrickungen der deutschen Sicherheitsbehörden mit der faschistischen Mörderbande aufgedeckt. 10 Morde, 43 Mordversuche, 3 Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle gehen mindestens auf das Konto des NSU und ihrer HelferInnen. Dass der NSU kein einmaliges Phänomen war, sondern in der Tradition des deutschen Neofaschismus, mit Billigung und Unterstützung durch die Sicherheitsbehörden, jahrelang agieren konnte, zeigt auch ein Blick nach Braunschweig und Peine in den 1970er- bis 1980er-Jahren.
Die „Braunschweiger Gruppe der NSDAP/AO“ (Auslands- und Aufbauorganisation) wurde im März 1979 aufgedeckt, nachdem ein V-Mann des niedersächsischen Verfassungsschutzes Anschlagspläne auf den damaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Gerhard Stoltenberg (CDU), der Sicherheitsbehörde übermittelte. In Zeiten kurz nach dem Deutschen Herbst und während der Rasterfahndung bietet dieser Vorfall soweit eigentlich wenig Brisanz.
Doch Kumpanei und Verstrickung mit örtlicher Polizei, Sicherheitsbehörden der BRD und DDR (!) geben dem Kapitel „Braunschweiger Gruppe“ eine besondere Würze.
Bei der Aufdeckung des Anschlages auf Stoltenberg wurden auch Pläne auf das jüdische Gemeindezentrum und das Justizgebäude in Hannover, die Berlin-Autobahn (A100), DDR-Grenzanlagen und auf Lastzüge in Holland und Polen bekannt.[1] Zudem tauchte eine „Todesliste“ auf. Die Liste umfasste insgesamt über 600 Namen von jüdischen Menschen, Linken und prominenten Bundesbürger*innen, darunter auch Fernsehstar Hans Rosenthal, Heinz Galinski (Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlins) und Regisseur Ulrich Schamoni.[2] Auch in der BRD akkreditierte Diplomaten und Journalisten sozialistischer Länder sowie BRD-Bürger*innen, „die nur den Verdacht einer progressiven Teileinstellung erregen“ (Bericht der XXII [3]) waren Ziele der Braunschweiger Gruppe.[4]
Im Herbst 1977, zwei Jahre vor der Aufdeckung, verübte sie zwei Anschläge. Am 02. September wurde vor der Staatsanwaltschaft in Flensburg eine Bombe gezündet, kurz darauf, am 20. Oktober, detonierte ein weiter Sprengsatz vor dem Amtsgericht Hannover. Zudem wurden mehrere Anschläge auf DDR-Grenzanlagen durchgeführt.
Wer war die Braunschweiger Gruppe?
Paul Otte, Volker Heidel, Oliver Schreiber, Wolfgang Sachse und Hans-Dieter Lepzien sowie 15 weitere Mittäter*innen.
Der Peiner Taxiunternehmer Hans Dieter Lepzien, Jahrgang 1943, war nicht nur NPD-Mitglied, sondern auch der V-Mann des niedersächsischen Verfassungsschutzes, der im März 1979 die Pläne der Braunschweiger Gruppe an die Sicherheitsbehörde übermittelte. Lepzien war aber als Doppelagent tätig. Seit 1976 war er als IM Otto Folkmann für die Stasi der DDR eingesetzt.[5]
Lepzien besorgte der Abteilung XXII die Todesliste, die in Paul Ottes Braunschweiger Gruppe erarbeitet wurde. Er informierte die Stasi, dass die NSDAP Ortsgruppe Berlin im Besitz von Waffen sei und selbstkonstruierte Sprengsätze, Bomben und Zündmittel erprobte, um diese gegen die DDR Grenze einzusetzen.[6]
Führer der Braunschweiger Gruppe war Paul Otte, welcher enge Kontakte zu dem US-Neonazi und Holocaustleugner Gary Rex Lauck pflegte. Lauck gründete 1972 die weltweit vernetzte NSDAP/AO. Von seinem Parteibüro in Lincoln (Nebraska) hielt Lauck Kontakt mit den NSADP/AO Gruppen und unterstütze Terrorzellen, die sich für eine Wiederzulassung der NSDAP und die Errichtung eines „Vierten Reiches“ einsetzten.[7] Geplant war, für diese neonazistische Untergrund-Organisation zunächst Zellen mit drei bis fünf Personen – so wie auch die Braunschweiger Gruppe – für bewaffnete Aktionen in der Bundesrepublik zu schaffen.
Paul Otte war Rottenführer[8] des SS-Panzerregiments „Das Reich“, seit den 1960ern Schatzmeister der NPD Kreisverband Braunschweig und deren Kandidat für die Kommunalwahlen. Aufgrund eines erfolglosen politisch motivierten Banküberfalls 1961 in Braunschweig saß er zwei Jahre in Celle im Gefängnis. Das Geld sollte dazu dienen, einen NS-Untergrundkampf zu finanzieren. Seinen Lebensunterhalt musste er fortan u.a. durch den Verkauf und Versand von Tonbändern mit NS-Inhalten, darunter z.B. Reden von Adolf Hitler, das Horst-Wessel-Lied und weitere NS-Propaganda verdienen. Neben US-Nazi Lauck unterhielt Otte auch Kontakte zu dem ebenfalls gut vernetzten deutschen Neonazi-Führer Michael Kühnen. Bei internationalen Treffen in Kopenhagen, England und in Belgien knüpfte er Kontakte zu Neonazis aus Liverpool.
Otte galt als Schlüsselfigur der niedersächsischen Neonazi-Szene. Schon in den 1960er Jahren scharten sich gewaltbereite Rechtsextremisten um ihn, aus denen er später die Braunschweiger Gruppe als Terrorzelle der NSDAP/AO bildete. Er galt als Kopf und Drahtzieher der Gruppe und zeigte sich für die Planung der Aktionen zuständig. Am 13.08.1976 wollte Otte einen Kranz samt Hakenkreuzfahne in West-Berlin in der Nähe des Brandenburger Tor ablegen. Die für die geplante Ermordung von Gerhard Stoltenberg selbst gebaute Rohrbombe war im Toilettenkasten von Paul Ottes Wohnung versteckt. [9}
Im März 1979 wurde Otte und die Braunschweiger Gruppe von der Polizei festgenommen und wegen Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung nach §129a angeklagt. Während des Verfahrens wurde öffentlich, dass Hans Dieter Lepzien als V-Mann des niedersächsischen Verfassungsschutzes in der Braunschweiger Gruppe als „Sicherheitsbeauftragter“ aktiv war. Lepziens Rolle im VS ist bis heute umstritten, da Aufzeichnungen darüber zerstört oder gesperrt wurden. Durch seine Tätigkeiten für die Stasi lassen sich durch die noch vorhandenen Akten die Aktivitäten der Braunschweiger Gruppe sehr detailliert rekonstruieren.[11]
Auch zu Josef Bachmann, der im April 1968 das Attentat auf Rudi Dutschke verübte, unterhielt Paul Otte Kontakte. Otte war für diesen sogar eine Art Vaterfigur. Bachmann sagte in seinem Prozess aus, dass er bereits im März 1962 aufgrund von unerlaubtem Waffenbesitz zu vier Wochen Jugendarrest verurteilt wurde. Die Pistole für das Attentat erwarb Bachmann von Wolfgang Sachse für 35DM im Jahr 1961 in seinem Wohnort Peine11. Zusammen mit Sachse übte der Dutschke-Attentäter auf einen Schießplatz in Peine mit scharfer Munition das Schießen. Der Waffenbesorger Sachse war später einer der Bombenbauer der Braunschweiger Gruppe und wurde wie Otte nach §129a angeklagt. „Doppelagent“ Lepzien berichtete, dass Sachse, der auf dem Peiner Schießplatz als Schießwart arbeitete, auch enge Kontakte zur Polizei hatte und einzelne Polizisten auch mit Munition versorgte.
Während des Dutschke-Prozesses wurden unzählige Zeugen vernommen, doch Wolfgang Sachse, den Bachmann selbst offen benannte, wurde nie verhört. So blieb der niedersächsischen Polizei ein Skandal erspart, da die Kumpanei zwischen Sachse und den Polizisten vor Gericht sicherlich zu Tage gekommen wäre.[12] Im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtet Sachse großmütig von einer Art Allianz zwischen Neonazis und Polizei – so konnten Sachse und seine Nazifreunde unbehelligt mit Pistolen am Halfter in Kneipen gehen – in jeder Hinsicht gedeckt von der Polizei. Die Peiner Polizei tolerierte es auch, dass Polizeibeamte mit eigenen „schwarzen“ (also illegalen) Waffen, zusammen mit der Nazigruppe um Sachse und Ottes, Schießübungen durchführten.[13]
Während seines Prozesses sagte Bachmann auch aus, mehrfach in der Nähe des Kraftwerkes Harpke bei Helmstedt auf die DDR-Grenzanlagen geschossen zu haben, in der Hoffnung Grenzsoldaten anzulocken um diese dann zu erschießen. Zudem riss er mit einem Abschleppseil Stacheldrahtzäune an der Grenze ein, um mit Steinwürfen Minen zur Explosion zu bringen. Solche Anschläge wurden jahrelang von Peiner Neonazis durchgeführt. Aus diesem Grunde wurden Hans-Dieter Lepzien von der Stasi angeworben, mit dem Ziel Einblicke in die Peiner Naziszene zu erhalten.[14]
Im sogenannten „Braunschweiger Prozess“ gegen die Braunschweiger Gruppe wurden im Jahr 1981 Otte, Lepzien, Sachse, Volker Heidel und Oliver Schreiber zu mehrjährigen Haftstrafen durch das Oberlandesgericht Celle verurteilt. Gruppenführer Paul Otte wurde als Rädelsführer, wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion, Vorbereitung von zwei Explosionsverbrechen und Verstößen gegen das Waffengesetz, zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt.[15] Die richterliche Begründung des Urteils verschwand aufgrund der Beteiligung des Verfassungsschutz in den Archiven als „Geheime Verschlusssache“.[16]
Hans-Dieter Lepzien wurde durch den Bundespräsidenten Karl Carstens (CDU) bereits nach einem Teil der verbüßten Haftstrafe (Gesamtstrafe 3 Jahre) begnadigt. Bereits im August 1981 wurde in der „Deutschen National-Zeitung“ folgende Anzeige publiziert:
„Ich möchte mich bei allen nationaldenkenden Männern und Frauen, die durch meine Spitzeltätigkeit für den ‚Verfassungsschutz‘ in Verruf kamen, ausdrücklich entschuldigen und bitte alle um Verzeihung. Hans-Dieter Lepzien“ [17]
Das Beispiel der Braunschweiger Gruppe zeigt auf, dass der NSU-Komplex, wie vielfach behauptet, kein einmaliges „Versagen“ der Staatsorgane ist, sondern sich dieses durch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zieht. Nur aufgrund der externen Quellen der Stasi, Recherche von Antifagruppen und Journalist*innen konnte die Komplexität und Verstrickung des Staates in den neofaschistischen Terror aufgedeckt werden.
Es darf von weiteren Beispielen in vergangener und zukünftiger Geschichte ausgegangen werden, in denen organisierte Faschisten, Polizei und Verfassungsschutz miteinander verstrickt sind. Daher gilt es wachsam zu sein und diese Verbindungen aufzudecken und zu benennen.
Fußnoten
[1] Der Spiegel 2009 Nr. 51
[2] Der Spiegel 1984, S. 102
[3] Hauptabteilung ‚Terrorabwehr‘ des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR
[4] Förster 2018, S.210-211
[5] Förster 2018, S.25
[6] Förster 2018, S. 219
[7] Förster 2018, S.215-216
[8] SS-Rottenführer: höchste Rang der Dienstgradgruppe der Mannschaften der Schutzstaffel
[9] AIB
[10] AIB
[11] Maegerle
[12] AIB
[13] Der Spiegel 2009 Nr.50, S. 31
[14] Der Spiegel 2009 Nr.50, S. 31
[15] Maegerle
[16] Der Spiegel 2009 Nr.50, S.34
[17] Maegerle
Quellen
- Förster, Andreas: Zielobjekt Rechts: Wie die Stasi die westdeutsche Neonaziszene unterwanderte. Ch. Links Verlag, 2018.
- Antifaschistisches Infoblatt (AIB) Nr. 88 „Das Attentat auf Rudi Dutschke“ (https://www.antifainfoblatt.de/artikel/das-attentat-auf-rudi-dutschke)
- Maegerle, Anton: Der Schütze und sein politisches Umfeld. Diskursiv, 2018. (http://www.disskursiv.de/2018/04/09/vor-50-jahren-attentat-auf-rudi-dutschke/)
- Der Spiegel 1984 Nr. 39 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13512210.html)
- Der Spiegel 2009 Nr. 50 (http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/68073953)
- Der Spiegel 2009 Nr. 51 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-68167758.html