Der Fall Tom Radtke ist wahrscheinlich nicht unbekannt. Der Nachwuchspolitiker aus Hamburg gedachte Ende Januar bei Twitter der 75jährigen Befreiung von Auschwitz mit seiner nicht tragbaren Interpretation von Klimapolitik: „Die Nazis gehören auch zu den größten Klimasünder*innen, da ihr Vernichtungskrieg und ihre Panzer riesige Mengen an CO2 produziert haben. Viele Politiker sagen, dass sich das nicht wiederholen darf. Aber was tun sie gegen den Klima-Holocaust, der in diesem Moment Millionen Menschen und Tiere tötet?“ Eine indiskutable Relativierung des größten Verbrechen der Menschheit, ganz ohne Frage. Gerade für jemanden, der sich bei „Fridays For Future“ verordnet sah und zugleich auf der Liste der LINKEN für die Bürgerschaftswahl stand. Warum der 18jährige auf einen solchen Unsinn gekommen ist, lässt sich natürlich nicht mehr rekonstruieren. Unbedarfte Naivität oder Kalkül? Da er von dem daraus resultierenden Shitstorm anfangs überwältigt wirkte, schien ihm zunächst nicht bewusst gewesen zu sein, was er da lostritt. Die Reaktionen waren, ganz wie es in der Welt von Twitter üblich ist, nicht immer konstruktiv, sondern teilweise vernichtend. Ob das nun sinnvoll ist, ihn direkt dort zur Persona Non Grata zu erklären, ist diskutierbar, darum soll es hier aber gar nicht gehen.
Die weiteren Entwicklungen danach sind nämlich das eigentliche Spannende, denn Tom Radtke bekommt Unterstützung von Personen aus einem politisch ganz anderen Spektrum. Den Spezialist*innen für Verbreitung von kruden Ideen und Aktionen im Internet: der (virtuellen) Neuen Rechten. Ganz vorneweg natürlich Martin Sellner, Gesicht und Kopf der Identitären Bewegung in Österreich, aber auch andere dieser Internethetzer*innen hängten sich schnell dran. Eine Unterstützung von IB, AfD und Neuer Rechter für einen vorgeblich Linken? Wie kommt man zu dieser verqueren Linie, wenn Tom Radtke doch eigentlich gar nicht politisch bei ihnen einzuordnen ist?
Julian Assange Junior?
Stein des Anstoßes war seine eigene Reaktion, die auf die Kritik an ihm folgte. Statt sich dieser Sicht der Dinge anzunehmen, begann er in eine Abwehrhaltung zu gehen, die darin gipfelte, vermeintliche Informationen über „Fridays For Future“ zu leaken. „Dreckige Geheimnisse“ zu veröffentlichen war nun sein Ziel – ein Julian Assange der Klimabewegung also.Er verbreitete das Ganze unter „Radtke Leaks“ über Videostreams, Facebook und Twitter. Es ging neben Eitelkeiten, wie der Frage, ob die Akivistin Luisa Neubauer ihn kennt oder nicht, auch um Vorwürfe von Pädophilie und sexuellen Missbrauch bei „Fridays For Future Hamburg“. Diese Vorwürfe sind bisher nicht von ihm belegt worden, haben aber das Interesse der Neuen Rechten geweckt. Ein junger, politisch interessierter Mensch, der gegen das Feindbild Klimaaktivismus schießt? Ein gefundenes Fressen. Ihm wurde mit Ralf Höcker direkt ein bekannter Anwalt aus rechten Kreisen vermittelt, aus dem Umfeld der WerteUnion, der auch mit der AfD keinerlei Berührungsängste hat. Eine juristische Vertretung also, die eine Drehung um 180° im politischen Spektrum bedeutet. Seitdem rufen auch die verschiedensten rechten Online-Aktivist*innen dazu auf, ihn finanziell zu unterstützten und dafür zu sorgen, dass er mit seinen Veröffentlichungen weitermachen kann. Natürlich, warum sollte man auch nicht dafür sorgen, dass diese Dreckschleuder an Lügen und Verunglimpfungen nicht aufhört zu funktionieren.
Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Doch nicht nur sein Unterstützer*innennetzwerk entwickelt sich katastrophal, er selbst macht ebenfalls einen starken politischen Wechsel in kurzer Zeit durch. Das lässt sich nicht nur an seinen Tweets erkennen, sondern auch daran, dass er nun zwei größere Interviews gegeben hat. Einmal bei dem Format MassengeschmackTV, einem YouTube-Sender, der gerne “gegen den Strom” schwimmt und nicht unbedingt immer durch journalistische Kompetenz auffällt und einmal direkt bei Martin Sellner. Im ersten Interview merkte man, dass er neuerdings Rechtsbeistand erhält, denn zu vielen seiner Aussagen wollte er auf einmal nichts mehr sagen, da der Anwalt ihm geraten hat, dazu zu schweigen. Es wird jedoch klar, dass dieses Abwehrverhalten auch daher resultiert, dass er verschiedene Aussagen einfach nicht wirklich belegen kann. Das Interview ist sonst eher irrelevant, da auch der Interviewer erkennt, dass nicht viel aus Tom Radtke herauszuholen ist.
Im Martin Sellner Livestream-Interview hingegen geht er in die Vollen: Er selbst sucht dort passend zu seinem Gastgeber eine Gemeinsamkeit über Querfrontpolitik. Dabei ordnet er sich selbst als patriotischer Linker ein und versucht einen Bezug zu Ernst Thälmann herzustellen, dem Vorsitzenden der KPD in den 20er und 30er Jahren. Was genau er an Thälmann gut findet, erläutert er nicht, reicht jedoch Martin Sellner ideologisch die Hand, indem er sich als stolzer Deutscher selbst inszeniert. Daneben werden auch noch antinationale Ideen, eine solidarischer Umgang mit Geflüchteten und der Feminismus niedergemacht. Also genau das, was Martin Sellner ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Dieser macht ein kleines Zugeständnis, indem er sich auch gegen “entgrenzten” Kapitalismus stellt und lässt sonst Tom Radtke reden und reden. „Fridays FoFuture“ wird zur Sekte stilisiert und im Livechat gibt es tosenden Beifall von der creme de la creme der rechten YouTube-Blase. Alle sind zufrieden, dass sie endlich den Linken gefunden haben, der aufzeigt, was eigentlich im emanzipatorischen Lager scheinbar schiefläuft. Martin Sellner rief sogar zur Wahl von Tom Radtke auf, um ihn in die Bürgerschaft zu bringen. Ganz ernstgemeint oder nicht, ein Tom Radtke, der Immunität und Indemnität (also de facto Straffreiheit) genießen würde, könnte weiterhin Unwahrheiten verbreiten, ohne dass er Angst haben muss, dafür Klage und Strafe zu erhalten.
Ob nun Tom Radtke wirklich seine politischen Positionen so verändert hat, vorher vielleicht auch schon so dachte, oder sich eben denen anpasst, die ihn unterstützen, ist nicht abschließend zu beurteilen.Es ist jedoch ein optimales Thema für die Neue Rechte, da die ganze Geschichte so hohe Wellen schlug, dass ein breites Spektrum an Medien darüber berichtete und sie so die Möglichkeit bekamen, dieses Thema für sich zu besetzen. Tom Radtke selbst disqualifizierte sich ein erneutes Mal, als er kurz vor den Wahlen in Hamburg zusammen mit Aktivist*innen der IB in der Gedenkstätte für Ernst Thälmann posierte und zusammen mit diesen eine Fahne der Identitären präsentierte. Das absurdeste Ergebnis dieses grotesken Verhaltens war sein Besuch bei dem “Laut gedacht”-Videoformat, in welchem er mit dem rechtsextremistischen Waldschrat vom Dienst, Alex Malenki (eigentlich Alexander Kleine), lustiges Zitateraten machte und dort Inhalte von Höcke erfolgreich streute. Es ist so schwachsinnig, dass es hoffentlich so schnell wie möglich in den ewigen Weiten von YouTube verschwindet.

Aus seiner Einstellung, mit jedem reden zu wollen, wurde eine klare Querfront, eine Tolerierung und Unterstützung von rechten Strukturen. Damit wird auch die Frage nach seinen ursprünglichen Beweggründen irrelevant, mit diesem Schritt ist er für eine (emanzipatorische) Linke nicht tragbar.
Highspeed-Reaktion zeigt ihre Schlagfertigkeit
Die Neue Rechte besitzt eine starke Internetmobilisierung, die sie nicht auf die Straße bringen können. Zumindest ist das auffällig bei der IB der Fall, die nur ein Internetriese sind. Jedoch zeigt sich mit dem Fall von Tom Radtke, wie gut sie weiterhin online agieren können. Ein Diskurs wird schnellstmöglich gekapert, Kommentarspalten meinungsmachend von einer Armee von rechten Internet-Trollen geflutet und man schafft es in kurzer Zeit sich selbst wieder in Szene zu setzen. Ob Tom Radtke nun selbst auch in dem Kreis der Online-Nazis aufgenommen wird oder er nun einfach komplett verschwindet, ist dabei nicht so wichtig, denn sein Fall ist Wasser auf die Mühlen der rechten Netzwerke. Jedes Mal, wenn es eine Andockmöglichkeit für die Rechten gibt, versuchen sie diese zu nutzen, um ihre Abläufe noch einmal zu professionalisieren. Glücklicherweise konnte Tom Radtke sich nicht für die Bürgerschaft durchsetzen.
Das Beispiel der IB zeigt aber ebenso, dass es durchaus eine erfolgreiche politische Forderung der Linken sein kann, die Strategie des Deplatformings voranzutreiben. Deplatforming meint, dass rechten Online-Aktivist*innen die Kanäle und Accounts gesperrt werden, damit sie sich nicht weiter präsentieren können. Rechte Diskurshoheiten über solche Kanäle sind eine Stärke, die der Rechten dringend genommen werden muss.
Ein Gedanke zu „Der Tom hat neue Freund*innen – Wie die Neue Rechte versucht Diskurse zu vereinnahmen.“
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