Leben ohne Polizei – bloße Utopie?

Ein Kommentar.

(aus: In/Press #2, April 2018)

Ob massive Polizeigewalt beim G20, vertuschte Polizeimorde in Dessau oder alltägliche, rassistische Kontrollen – die Polizei ließe sich vielfach aus guten Gründen kritisieren.

Dabei soll es hier im Einzelnen aber nicht gehen, sondern es soll vielmehr eine Kritik an der Institution Polizei an sich, im Ganzen, erfolgen und Ideen bzw. Perspektiven für eine Alternative zur Polizei aufgezeigt werden.

Aber die Polizei ist doch eine rechtmäßige Autorität!

Die Aufgabe der Polizei ist es formell das Gewaltmonopol des Staates nach innen, also gegenüber den Bürger_innen des Staates, durchzusetzen. Sie hat die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten und diese wiederherzustellen.

Im Prinzip bedeutet dies aber die Absicherung und Aufrechterhaltung der gegenwärtigen kapitalistischen und politischen Herrschaftsordnung – also vor allem das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln bzw. die Eigentumsordnung insgesamt – und der darin momentan Herrschenden. Derjenigen, die die Macht haben, festzulegen was Recht und Ordnung bedeuten soll. Derjenigen, die ihre Vorstellung von Recht und Ordnung in immer schärfere Gesetze der Unterdrückung festschreiben. Und derjenigen, die diese Gesetze anwenden und danach urteilen. Denn auch das Justizsystem stützt diese Herrschaftsbeziehungen.

Wenn wir die konkrete Herrschaft dieses kleinen Teils der Gesellschaft sowie die systematische Herrschaft des Kapitals insgesamt in Frage stellen, dann ist auch die staatliche Institution in Frage zu stellen, die diese Herrschaft manifestiert und autoritär verteidigt.

Aber wir brauchen die Polizei doch für Sicherheit und Frieden!

Wer so argumentiert, folgt meist einem negativen Menschenbild und meint, dass wir ohne Polizei nicht friedlich miteinander leben und unsere Probleme selbst lösen können. Andersherum gilt es zu beweisen, dass die Polizei dafür wirklich nötig und hilfreich ist, oder dieses Bedürfnis nicht mit anderen Mitteln zu erreichen ist. Zudem ist zu bezweifeln, dass wachsende soziale Ungleichheit und durch Polizeigewalt verbreitete Angst, vor allem für Angehörige der Minderheitsgesellschaft, Sicherheit und Frieden bedeutet.

Wir müssen den Kreislauf durchbrechen, der besagt, dass mehr Sicherheit auch mehr Frieden bedeutet. Wir müssen die militärische Aufrüstung der Polizei und Waffenproduktion und -exporte in der ganzen Welt kritisieren und ein Klima schaffen, in dem Gewalt und Repression als Teil des Problems empfunden und geächtet wird. Es gilt andere Konfliktlösungsstrategien für soziale Fragen zu finden. Und wir sollten solidarisch sein, mit allen Menschen die von Repression und Gewalt betroffen sind.

Aber Polizist_innen sind doch auch nur Menschen!

Vielleicht mögen einige Polizist_innen gute Absichten haben, doch gehen diese schnell in einem Individuum auslöschenden Korpsgeist und dem Befehlsgehorsam unter, der sie zwingt eigene Vorstellungen von Gerechtigkeit und Moral abzulegen. Immer wieder berichten anonyme Polizist_innen von Rassismus und Gewalt untereinander sowie dem Mantel des Schweigens, der über all diese Verfehlungen gelegt wird. Wer nicht mitmacht, wird ausgeschlossen.

Trotz dieses perversen Systems und dem Bewusstsein diesem anzugehören, entscheiden sich Polizist_innen für die Ausübung dieses Berufs, sei es aus finanziellen Motiven oder aus dem Wunsch heraus Autorität auszuüben. Denn trotz der gleichen ökonomischen Zwänge wie andere Arbeiter_innen auch, sind der Grund und das Ziel ihrer Tätigkeiten besonders. Sie entscheiden sich dafür die Interessen der Profiteure der kapitalistischen Machtverhältnisse zu vertreten. Ob aus Zwang oder freiem Willen ist letztlich im Grunde egal, denn sie beteiligen sich somit nicht nur am System, sondern sie stützen und verteidigen es durch ihr Handeln aktiv.

Sie helfen dabei die Institution und ihr Wirken aufrecht zu erhalten. Die ihr innewohnenden autoritären Werte und rassistischen Handlungsmuster werden so reproduziert und verfestigen sich auch auf individueller Ebene.

Und historisch ist die Traditionslinie der Polizei in Deutschland ebenso eindeutig. Nicht zuletzt, da auch nach dem Zweiten Weltkrieg fast die gleichen Akteure in der Polizei an führenden Stellen weitergearbeitet haben, hat sich dieses rassistische, nationalistische, gewalttätige und Feinbilder schaffende Menschenbild in der Institution Polizei bis heute erhalten.

Dies muss durchbrochen werden! Institutioneller Rassismus muss benannt werden. Ihr zwanghafter Korpsgeist und das gegenseitige Decken und Vertuschen von (tödlicher) Gewalt muss konsequent aufgedeckt und in die Öffentlichkeit getragen werden. Wir müssen ihre Widersprüche aufzeigen und so ihre vorgespielte Einheit unterlaufen.

Alternativen!

Eine Gesellschaft in einer Welt, die auf ungleichen Machtverhältnissen aufgebaut ist, wird sich immer wieder einer Institution bedienen, die diese mit Willkür und Unterdrückung schützt. Dass sich in diesem System die Institution Polizei gleiche Muster und Handlungsweisen aneignet, ist selbstverständlich. Es gilt also bestehende Herrschaftsstrukturen, und damit verbundene autoritäre Machtausübung, sukzessive in Frage zu stellen. Angefangen bei den eigenen vier Wänden.

Angefangen bei Geschlechterverhältnissen, dem Patriarchat, ökonomischen Abhängigkeiten, sozialer Ungleichheit und letztendlich dem gesellschaftlichen Zusammenleben. Wir müssen aufhören selbst autoritär und in Hierarchien zu denken. Selbst davon wegkommen das Unrecht manifestierende „Recht“ nicht zu hinterfragen und die „Lösung“ der sich daraus ergebenden Konflikte Staat und Polizei zu überlassen

Sollte ein Gesellschaftssystem nicht möglichst ohne Hierarchien seine Konflikte solidarisch selbst lösen können? So eine Gesellschaft bräuchte dann keine Polizei, wie wir sie kennen, keine Absicherung der Herrschaft, keine Autorität und Repression, keine Gewalt und keinen Rassismus!

Klingt ersteinmal weit weg und abwegig? Hat auch niemand gesagt, dass das schnell und einfach geht.

Einen beispielhaften Versuch dazu gibt es derzeit in der autonomen Kurd_innenregion „Rojava“ im Norden Syriens. Hier wird seit Jahren an einer „Revolution“ der ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gearbeitet. Eine umfassende Erläuterung der Veränderungen, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Nur so viel: Es wurde in den eigenen vier Wänden damit begonnen. Es wurde vom kleinsten an die bestehenden Verhältnisse in Frage gestellt.

Eine komplexe basisdemokratische, selbstverwaltende Rätestruktur wurde etabliert. Es gibt Quoten für Geschlechter, Ethnien und Religionen, um eine möglichst umfassende Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen zu gewährleisten. Gesellschaftliche Bildungs- und Diskussionsveranstaltung sind an der Tagesordnung um kulturellen Wandel zu gestalten und festzuhalten. Der Fokus liegt auf die Entwicklung und „Herrschaft“ der Zivilgesellschaft.

Auf dieser Basis wird auch versucht eine neuartige Institution aufzubauen, die Aufgaben der Polizei erfüllt. Sie wird „Asayesch“ genannt, was so viel wie „Sicherheit“ bedeutet, und ist zu unterscheiden von der Institution, die in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak tätig ist, da durch den Syrienkrieg in Rojava andere gesellschaftliche und organisatorische Voraussetzungen gegeben sind. Die Asayesch in Rojava bezeichnen sich selbst als Sicherheitskräfte der Gesellschaft, und nicht des Staates. Sie sollen also keine staatlichen Machtverhältnisse absichern, sondern die Freiheit der Gesellschaft garantieren. So sind sie von den jeweiligen Räten beauftragt, in zwei Feldern für Sicherheit zu sorgen. Die „äußere Sicherheit“, also in erster Linie die Sicherung der Verkehrswege vor djihadistischen Milizen (z.B. IS) und syrischen, bzw türkischen Geheimdiensten, und die „innere Sicherheit“, also der Eingriff in Konflikte, die nicht direkt von der Gesellschaft oder gesellschaftlichen Organisationen selbst gelöst werden können. Dies sind meist Gewaltdelikte oder Drogenhandel. Dabei sind die Asayesch-Einheiten direkt an Gerichte gebunden. Gerichtliche und polizeiliche Repression ist nicht auf Strafe, sondern auf Resozialisation und Perspektiven ausgelegt.

Möglichst alle Menschen sollen Trainings in gewaltloser Konfliktregelung und Unterricht in feministischer Theorie besuchen, um so Probleme auch ohne Hinzurufen der Sicherheitskräfte klären zu können. Ein dadurch verfolgtes Hauptziel ist ein Empowerment der Gesellschaft, so dass die Sicherheitskräfte in ferner Zukunft abgeschafft werden können.

Ein weiterer Punkt ist die Rechenschaftspflicht von oben nach unten und nicht wie bei uns umgekehrt. Die Kommandostruktur ist demokratisch aufgebaut. Einzelne Asayesch-Einheiten wählen Vertreter_innen, die auf monatlichen Treffen die Kommandierenden der nächst oberen Stufe wählen. Diese haben bei den Treffen Bericht abzulegen an die Ebenen darunter. Die unteren Ebenen erstatten Bericht an die betreffenden Räte der Region.

Fazit?!

Es ist lediglich ein Beispiel einer möglichen Alternative zur Polizei, die in einer gegenwärtigen Situation ihre Erprobung findet, die schwer mit unserer hier in Europa vergleichbar ist. Sicherlich können einige Schwierigkeiten nicht ausgeblendet werden, wie übermäßige Gewaltanwendung oder der Vorwurf von Zwangsrekrutierungen und Enteignungen von Häusern. Dies ist eventuell dem Kriegszustand geschuldet.

Generell ist aber zu sagen, dass einige Voraussetzungen geschaffen worden sind, eine Institution wie die Polizei einzustampfen. Basisdemokratische und quotierte Entscheidungsstrukturen, eine alternative Ökonomie, die nur auf Bedürfnisse ausgelegt ist, ein resozialisierendes Justizsystem und eine sich bildende und empowernde Gesellschaft. Sicherheitskräfte, welche der Gesellschaft dienen und nicht dem Staat und seiner ungerechten, kapitalistischen Stuktur. Eine demokratische und alternierende Kommandoebene, welche transparent Rechenschaft über ihre Arbeit abgibt.

So könnten erste Schritte in eine Welt, die uns gefällt, aussehen. Denn wir brauchen eure Gewalt nicht! Eure Lügen und Vertuschungen! Euren Rassismus und Hass auf alles, was ihr als „feindlich“ deklariert! Eure Selbstgefälligkeit und dummen Sprüche! Eure militärische Aufrüstung, Gefahrengebiete und Law-and-Order-Politik! Wir brauchen das alles nicht!

Der Polizei die Grundlage entziehen! Eigene soziale und politische Strukturen aufbauen! Das gesellschaftliche Miteinander selbst in die Hand nehmen!